Reisende soll man nicht aufhalten – meine Sterbebegleitung bei Frau K. (Teil 1)

Bei Frau K. war ich zu einer Sitzwache an einem Nachmittag im Juli. Sie wohnte in einer Demenz-WG und befand sich bereits im Sterbeprozess. Das fürsorgliche Pflegepersonal hatte ihr ermöglicht, in einem ruhigen Patientenzimmer, fernab des bunten WG-Trubels ihren letzten Weg anzutreten. In den drei Stunden, in denen ich an Frau K.’s Bett saß, hat sich mir unglaublich viel Gefühl und Demut offenbart. In diesem Artikel nehme ich dich mit auf die Reise in die Stille der Frau K.


Ehrfürchtig, dass ich ein neues Leben begleiten darf, betrat ich die Pflegeeinrichtung, in der ich gleich Frau K. kennenlernen sollte. Nach einer kurzen Einweisung überließ mich die liebe Pflegerin der Situation und bedankte sich unter dem Türrahmen stehend, dass ich diese ehrenamtliche Aufgabe der Sitzwache übernahm. Die Tür fiel ins Schloss. Ich war allein.

Ich stand im Raum und orientierte mich. Ich versuchte den mächtigen, verzierten Holzstuhl, der am anderen Ende des Raumes stand, geräuschlos an das Pflegebett von Frau K zu heben. Ein bisschen unsicher blickte ich mich um und atmete. Dasein ist genau das, was gebraucht wird, erinnerte ich mich an meine Hospizbegleiter-Ausbildung. Ich setzte mich erst einmal hin.

Frau K. und ich atmeten im gleichen Rhythmus: einatmen – ausatmen. Später erweiterte ich diesen Rhythmus in Gedanken zu einem Dreiklang: einatmen – Pause – ausatmen.

„Frau K., ich bin Kathrin. Ich sitze hier bei Ihnen an Ihrem Bett. Sie sind nicht alleine.“

Sitzend am Seitengitter ihres Pflegebettes sah ich sie an und stellte mir innerlich die Frage, was dieses Leben hinter sich hat – Lachen, melancholische Augenblicke, Lebensereignisse, Tränen, Marmeladenglasmomente, Krisen – und wohl alles dazwischen. Ich betrachtete achtsam ihre von Blutergüssen gezeichneten, dünnen Arme, Juckreiz-Wunden am Ellenbogen und nahm die in den Augenhöhlen versunkenen Augen, die spitze Nase und den eingefallenen Mund wahr.

Wie im Leerbuch beschrieben lag eine sterbende Frau vor mir – ich konnte alle Merkmale des bevorstehenden Todes, die wir in unserer Hospizbegleiter-Ausbildung gelernt hatten, ohne Zweifel erkennen.

Die Hand einer Hopizbegleiterin mit blau-weiß-gestreiftem Pullover hält die faltige Hand einer sichtbar sterbenden Frau mit einem weißen Wundpflaster. Beide Hände liegen friedlich auf einer Bettdecke mit Blumenmuster

Als ehrenamtliche Hospizbegleiterin schenke ich dem sterbenden Menschen Zeit und Zuwendung

Als Ehrenamtliche sind uns fachlich-pflegerische Tätigkeiten untersagt. Mundpflege hingegen (mit Wasser, Tee oder einem Getränk, das Sterbende Zeit ihres Lebens gerne konsumiert haben) gilt als fürsorgliche Erleichterung. So näherte ich mich mit dem Mundpflegestäbchen in der rechten und einem Glas Wasser in der linken Hand ihrem Mundbereich.

„Frau K., ich bin Kathrin. Ich sitze hier bei Ihnen an Ihrem Bett. Sie sind nicht alleine. Ich habe etwas zum Befeuchten für Ihre Lippen bei mir, das wird Ihnen vielleicht gut tun. Ich befeuchte jetzt Ihre Lippen.“
Ich brachte in diesem so mucksmäuschenstillen, ja fast heiligen Raum, kaum eine laute Silbe über die Lippen. Für mich fühlte es sich an, als sei ich in eine fremde Privatsphäre eingetreten. Ich erreichte oft nur ihre Oberlippe, die Unterlippe war bereits im eingefallenen Mund versunken.

Greift sie nach der Ewigkeit?

Ich sah Frau K. mitfühlend an, schaute, bemerkte, versuchte nicht zu bewerten. Ich bin hier, um da zu sein. Nicht, um mir selbst zu beweisen, dass ich das Ehrenamt ausüben kann, schoss es mir in den Sinn.

Sie griff immer wieder in die Luft. Mit beiden Händen, als wollte sie nach etwas fassen. Ich fragte mich, ob ich liebevoll ihre Hand greifen soll. Oder, ob ich sie damit womöglich sogar auf ihrem Weg in die Anderswelt dabei störte, die Hand einer Seele zu greifen, die sie abholen kam.

Ist sie schon auf dem Weg?
Greift sie nach der Ewigkeit?
Nach Weite, die sie ersehnt?
Oder nach einer ihr bekannten Seele, die sie wohlwollend auf der anderen Seite des Flusses in Empfang nehmen möchte?

Ich ließ meine Gedanken schweifen, legte meine Hand auf der violett-grau-beige-pastellfarbenen Bettdecke ab und wartete.

Sterbende Menschen haben ein großes Bedürfnis nach Stille. In unserem Raum – ihrem heiligen Raum, in den ich eintreten durfte – war es friedlich. Immer wieder griff sie in die Luft und hielt sich an der Bett-Triangel fest. Ganz schön kraftvoll umfasste sie die waagrechte der drei Plastikstangen und lag gleichzeitig schwach da. Manchmal zog sie sich mit einer monströsen Kraft nach oben.

Woher nimmt Frau K. diese Kraft?
Auf welcher Etappe ihres Weges befindet sie sich gerade?
Wohin dieser Weg wohl gehen mag?

Sie war sehr unruhig. Sie nestelte und zupfte mit ihren Fingern an der Bettdecke oder schob ihr braun-schwarz-weiß-gemustertes Oberteil von ihrem Körper weg.

Ich schob meine Handfläche unter die ihre. Das spendet Sicherheit und Getragensein.

Frau K. befand sich in einer Art Delir. Ein Zustand der körperlichen Unruhe, oft begleitet von Angst oder Halluzinationen.

Greift sie nach jemandem?
Nach irgendetwas, das auf sie wartet?
Nach Licht?

Mir schoss der Begriff „terminale Unruhe“ in den Sinn. Man kann bei Sterbenden in der letzten Lebensphase („Terminalphase“) und im akuten Sterbeprozess eine motorische Unrast beobachten. Häufig fühlen und tasten sterbende Menschen mit dem Bedürfnis nach Reizen und Zuwendung oder machen sich mit den Fingern an der Bettdecke zu schaffen, decken sich auf oder schieben Kleidung, die sie nicht mehr an ihrem irdischen Körper ertragen, von sich weg.

Ich stellte das Wasserglas mit dem am Rand lehnenden Mundstäbchen, mit dem ich ab und an ihre Lippen benetzte, vorsichtig auf der Sitzfläche meines Stuhles hinter mir ab. Während sich die Zeit anfühlte als sei sie stehengeblieben, entdeckte ich ihre zarten Finger auf der Bettdecke liegen. Ich schob meine Handfläche unter die ihre. Das spendet Sicherheit und Getragen-Sein. Obwohl wir beide bis hierher weder Augen- noch Sprachkontakt hatten, griff sie fest meine Hand. Wir kommunizierten. Non-verbal.

Jeder Atemzug bis zum letzten, ist pure Lebensenergie.

Ich atmete behutsam mit ihr mit und legte meine noch freie Hand auf die Stelle der Bettdecke, unter der sich ihr Kniegelenk befand.

Ob sie das wohl angenehm empfindet?
Vielleicht komme ich ihr damit zu nahe?
Spendet ihr meine Nähe Ruhe?
Fühlt sie sich hoffentlich nicht alleine?

Ich war überzeugt, ich vermittelte ihr Sicherheit, indem ich da war. Ich sprach laut aus: „Frau K., ich bin da, Sie sind nicht alleine. Ich werde nachher zwar wieder gehen, aber jetzt gerade, jetzt bin ich bei Ihnen.“

Der Gehörsinn ist bei einem gerade verstorbenen Menschen der letzte Sinn, der sich einstellt, so sagt man. Aber sie war ja noch nicht tot. Das gab mir das Selbstbewusstsein, dass sie mich bestimmt noch hören muss. Sie atmete.

Jeder Atemzug bis zum letzten, ist pure Lebensenergie.
Jeder Atemzug ein Quell tiefster Stärke.

Auch, wenn die Wahrnehmung eines sterbenden Menschen sehr eingeschränkt ist und er kaum orientiert wirkt, die Augen stets geschlossen hält – ansprechbar ist jede Person, zu jeder Zeit. Immer.

Was haben diese Hände wohl geformt? Gestreichelt, gearbeitet, gebacken, getragen?

Je unruhiger sie wurde, desto tiefer atmete ich ein und aus. Ich schloss meine Augen und kam in einen meditativen Zustand – bis mich ein lautes Stöhnen aus meiner Lautlosigkeit riss. Mein Zucken lenkte meinen Blick auf ihre wunderschönen, geradlinigen Finger.

Ihre perfekt geformten Fingerglieder schoben sich von selbst in meine Richtung. Sie hatte keine angeschwollenen Fingergelenke, wie man das manchmal von hochbetagten und von Krankheit gezeichneten Menschen kennt. Den Ringfinger zierte ein dünner Ehering in wunderschönem, zarten Roségold. Ich selbst bin seit einigen Jahren verheiratet und schätze dankbar jeden einzelnen Tag, den ich mit meinem Mann erleben darf. Ein wohliger Schauer von Demut kroch mir in den Nacken.

Wie viele Jahre der Ring wohl schon an ihrem Finger steckt?
Ob die Person mit dem zweiten Ring noch lebt?
Wer war wohl diese andere Person mit dem gleichen Ring?

Vor meinem geistigen Auge spulte sich ein Film ab: Außenansicht einer Goldschmiede, ein Backsteinhaus, zwei bunte Blumenkübel voller Lebendigkeit säumten die aufwändig verzierte Ladentüre, die sich bimmelnd mit dem wackelnden „Geöffnet“-Blechschild öffnet und ein verliebt-kicherndes, aufgeregtes Ehepaar hineinstolpert, um dem Goldschmied zwei Eheringe in Auftrag zu geben.

Ich betrachtete diese gleichmäßigen Finger und fragte mich:
Was haben diese Hände wohl geformt? Gestreichelt? Gearbeitet? Gebacken? Getragen? Welche Hände haben sie umschlossen? So wie meine nun die ihre tragen.

Ich fühlte mich ertappt, dass ich gedanklich versuchte in ein fremdes Beziehungsgeflecht einzudringen.

Auf einem Tischchen einige Meter vom Bett entfernt standen drei Bilderrahmen. Hätte Frau K. die Augen noch geöffnet, hätte sie die Bilderrahmen deutlich mit geradem Blick stehen sehen. Ich versuchte zu erkennen, ob der Mann auf dem mittleren Bild ihr Ehemann sein könnte. Das Foto wirkte wie aus den 70er Jahren. Seine rechte Hand, an der möglicherweise auch ein Ehering hätte stecken können, war verdeckt von einer üppigen Torte. Die Torte zierte ein in Zuckerguss geformtes Datum: 4.4.88. An diesem Tag hatte er wohl einen Doktortitel erhalten – das verriet zumindest die Torte.

Links und rechts säumten zwei weitere Bilder das Foto des Mannes mit der Torte. Hatte sie zwei Söhne? In ihrer Patienteninformation stand nur etwas von einem Neffen und als ich heute von der Pflegekraft knapp instruiert wurde, sagte sie mir, dass ihr Sohn im vergangenen Dezember verstorben war.

Ist einer dieser Männer der verstorbene Sohn?
Oder sind beide Männer dieselbe Person, nur in unterschiedlichen Lebenssituationen mit unterschiedlichem Aussehen?

Ich versuchte mit zusammengekniffener Stirn zu erkennen, ob sich beide Männer links und rechts ähneln. Der junge Mann auf dem linken Bild hielt ein kleines, glucksend-lachendes Baby auf dem auffällig tätowierten Arm. Der rechte trug eine kinnlange Jünglingfrisur und einen schicken schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Der linke eine Sonnenbrille, so dass ein Vergleich zu den Augenbrauen zum rechten Mann unmöglich war. Die Knubbelnase, die könnte aber dieselbe sein, dachte ich mir.

Plötzlich überfiel mich eine riesige Demut. Mir offenbarte sich eine mir fremde Familie wie es viele tausende auf dieser Welt gibt. Mit ganz individuellen Familienmomenten. Ich fühlte mich ertappt, dass ich gedanklich versuchte in dieses fremde Beziehungsgeflecht einzudringen.

Ich stellte mir vor, wie der Wind kommt, um sie abzuholen.

Frau K.’s plötzlicher Schluckauf riss mich erneut aus meinem Gedankenkino. Ich blickte vor Schreck mit klopfendem Herzen bewegt einen Moment durchs Fenster in den strömenden Regen, meine Augen fokussierten die Ferne und ich erfasste den starken Wind in den Bäumen des Innenhofs der Pflegeeinrichtung. Ich stellte mir vor, wie der Wind kommt, um Frau K. abzuholen. Um sie sanft davonzutragen wie einen Engel mit ausgestrecktem Arm.

Frau K.’s körperliche Energie war sehr ambivalent: sie wirkte schwach. Ausgelaugt von der Wegstrecke, die sie bereits zurückgelegt hatte. Als Außenstehender betrachtet, hätte man gesagt, sie reagiert nicht mehr.

Und ebenso kraftvoll, indem sie sich immer wieder aufrichtete und unruhig bewegte. Getrieben vom Bedürfnis etwas loszuwerden.

Nach einer Weile lag sie fast offenbart vor mir mit nackten Beinen, verzerrtem Oberteil, mit ihrer Windelhose und den Mullbinden, die nässendes Wundsekret auffingen. Das alles kann bei sterbenden Menschen ganz normal sein. Ich fühlte mich durch meine Ausbildung gut auf solche Momente vorbereitet – auch, wenn es eine ungewohnte Situation war.

Reisende soll man nicht aufhalten.

Ich hielt Raum und tat nichts. Ich wollte sie nicht stören. Sie nicht wieder zudecken. Es war mein Gedanke, sie könnte frösteln. Ich versuchte mich selbst nicht in einer Übersprungshandlung zu verlieren, widerstand dem Impuls etwas tun zu wollen. Reisende soll man nicht aufhalten.

Warten auf das Allmächtige.

Sie wurde zunehmend unruhiger, so dass ich verunsichert kurz die Pflegerin holte. Die Pflegekraft versicherte mir, dass Frau K. durch ihre palliative Schmerzpumpe regelmäßig mit schmerzlindernden Medikamenten sicher versorgt wird und deutete mit beiden Händen ausgestreckt zum Himmel. Zeigend, dass wir gerade nur eines tun können: auf das Allmächtige zu warten.

Sterbende beruhigt es, einen Menschen an ihrer Seite zu spüren. Ich bot immer wieder meine Hand an, schob meine Handfläche unter die ihre. Frau K. griff mehrmals beherzt zu und atmete tief ein und aus. Zum ersten Mal nach zwei Stunden hatte ich das Gefühl, dass sie tief und fest schlief. Die Unruhe schient für sehr lange 10 Minuten verschwunden. Ich schloss ebenfalls meine Augen und atmete mit ihr ein – hielt inne – atmete aus. Ein gewordener Dreiklang zweier Seelen.

Morgen werde ich sie wieder besuchen, dachte ich mir. Ich verabschiede mich mit den Worten „Alles Liebe, Frau K., ich wünsche Ihnen eine gute Reise.“

Wer weiß, ob wir uns morgen wieder sehen.

Wenn dir der erste Besuch bei Frau K. gefallen hat, lies auch gern den Teil 2.


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Werde ich sie noch einmal sehen? – meine Sterbebegleitung bei Frau K. (Teil 2)

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